Der Alltag eines Kindes ist voller Herausforderungen und Stolpersteine: Das Puzzleteil, das einfach nicht passen will. Streit mit einem Kind auf dem Spielplatz. Oder der Reißverschluss der Jacke, der sich trotz größter Entschlossenheit einfach nicht schließen lässt. Ohne viel nachzudenken ist meist unser erster Impuls, schnell für Beruhigung zu sorgen. Wir beheben das Problem. Und lenken das Kind von seinem Frust ab. Damit ja schnell alle wieder happy sind.
Wir zeigen, dass das Puzzleteil einfach nur gedreht werden muss. Wir eilen herbei und klären: „Benny war zuerst an der Schaukel. Du wartest bitte, bis du an der Reihe bist!“ Oder wir ziehen den Reißverschluss ganz schnell selbst hoch: „Siehst du, schon fertig! Los geht’s.“
Doch tun wir unseren Kindern damit einen Gefallen?
Ein praktischer Ansatz, Kinder selbst lernen zu lassen
Ein sehr einfaches, aber wirksames Werkzeug von Magda Gerber ist „Sportscasting“ – sachliches Beschreiben der Situation, ohne klärend einzugreifen. Wie ein Sportkommentator. Mit diesem Tool können wir unseren Kindern helfen:
- ihre eigenen Fähigkeiten zu entdecken und auszuprobieren,
- Selbstvertrauen zu entwickeln,
- den Umgang mit Konflikten und Problemen zu lernen,
- auch mit Gefühlen wie Frust, Ärger und Enttäuschung umgehen zu lernen.
Es gibt den Kindern den Freiraum, Situationen und ihre Gefühle ganz bewusst wahrzunehmen. Denn oft geben wir ihnen gar nicht die Möglichkeit dazu, wenn wir direkt eingreifen.
Beobachten und beschreiben statt eingreifen
Mit der Sportkommentatoren-Methode greifen wir nicht aktiv in die Situation ein. Stattdessen beschreiben wir sie. Objektiv und emotional neutral. Ohne zu interpretieren. Und ohne zu urteilen. Damit geben wir unserem Kind die Chance, selbst aktiv zu werden und eigene Lösungswege zu finden.
„Hm, das Puzzleteil scheint nicht so recht zu passen. Es lässt sich nicht in das Puzzle stecken.“
„Oh, ihr zwei wollt zur selben Zeit auf die Schaukel. Jetzt steht ihr beide davor und haltet die Schaukel fest. Es gibt aber nur eine. Was können wir tun?“
„Es ist gar nicht so einfach, den Reißverschluss zu schließen. Er klemmt ein wenig. Du ärgerst dich, weil es nicht klappt, oder?“
Als Kommentatoren zeichnen wir unsere Beobachtung nach. Eben wie bei einem Fußballspiel. Dabei macht ein Kommentator keine eigenen Vorschläge. Er springt auch nicht aufs Spielfeld und rennt hinter dem Ball her. Er sagt einfach nur, was er sieht.
Drei wichtige Botschaften
Übertragen auf alltägliche Problemsituationen senden wir unserem Kind mit dieser Haltung drei wichtige Botschaften:
- Ich sehe, wie du kämpfst. Ich nehme dich und deine Gefühle wahr. Ich schenke dir Aufmerksamkeit und bin an deiner Seite. Ich kümmere mich um dich.
- Ich habe Vertrauen in dich, dass du das Problem selbst lösen kannst. Ich kenne nicht DIE eine Antwort. Es gibt verschiedene Wege, ein Problem anzugehen. Du bist kompetent und kannst eigene Ideen und Lösungen entwickeln.
Die dritte Botschaft halte ich für besonders wichtig:
- Es ist nicht notwendig, vor negativen Gefühlen wie Frust, Angst, Wut, Irritation, oder Verwirrung gerettet zu werden. Ich bin von deinen Gefühlen nicht überfordert – und ich muss es auch nicht sein. Es ist okay! Und wichtig. Unbehagen ist oft der Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Ideen.
Mit der Sportkommentatoren-Methode zeigst du deinem Kind, dass du bewusst und emotional präsent bist. Viele Kinder wachsen mit einem Gefühl der Einsamkeit auf. Nicht etwa, weil ihre Eltern körperlich nicht anwesend sind, sondern weil sie emotional nicht präsent sind.
Sportscasting ist eine Möglichkeit, deinen Kindern zu zeigen, dass du hinter ihnen stehst und dass du ihre Gefühle nicht nur sehen und dich um sie kümmern, sondern auch mit ihnen umgehen kannst.
Weniger ist mehr – die Vorteile von „Sportscasting“
Taucht ein Problem oder ein Hindernis auf, schalten wir meist automatisch in den Lösungs- und Handlungsmodus. Das sind wir aus unserem Alltag gewohnt. Lösungen müssen her. Schnell. Und es ist, gerade am Anfang, gar nicht so leicht, sich zurückzunehmen und innezuhalten. Aber bedenke: Nur so können kluge, achtsame und kreative Lösungen für Probleme oder Konflikte gefunden werden.
Die Sportscasting-Methode ist auf zwei Wegen wirksam: Wir zeigen, dass wir da sind und uns für unsere Kinder interessieren. Gleichzeitig vertrauen wir aber in ihre Eigenständigkeit und Kompetenz.
Wie lernt ein Mensch, gute Entscheidungen zu treffen? Indem er Entscheidungen trifft. Wie lernt ein Mensch, mit anderen Menschen zu kommunizieren und Konflikte zu lösen? Indem er kommuniziert und versucht, Konflikte zu lösen. Und wie lernt ein Mensch das Radfahren? Genau… indem er sich auf das Fahrrad setzt und fährt.
Die Versuchung, Situationen für unsere Kinder zu regeln, kann manchmal sehr groß sein. (Oh ja…) Wenn wir aber diesen Impuls kontrollieren, geben wir unseren Kindern den Freiraum, ihre Fähigkeiten selbst zu entdecken und weiterzuentwickeln. Sich auszuprobieren und die eigene Wirksamkeit – aber auch die eigenen Grenzen – zu erleben. Lernen in seiner Reinform.
Wir lassen zu, was geschieht. Und statt unsere Kinder von uns Erwachsenen abhängig zu machen, fördern wir ihre Widerstandsfähigkeit. So können die Kinder Selbstvertrauen entwickeln. In unserer Anwesenheit und mit unserer vertrauensvollen Unterstützung. Ihrem Auffangnetz, sozusagen. Denn dass die Sicherheit der Kinder in jeder Situation oberste Priorität hat, versteht sich von selbst.
Nun ganz praktisch: Wie verhalten wir uns als Sportkommentatoren?
Okay, ganz praktisch: Jetzt sehen wir, dass sich eine Problemsituation anbahnt. Wir halten kurz bewusst inne und beobachten unser Kind. Vielleicht findet es ohne eine eigene Lösung, ohne dass wir eingreifen müssen? (Reagieren wir zu früh, bekommt unser Kind ja nicht einmal die Chance, selbst zu handeln.)
Kommt beim Kind Frust auf, beschreiben wir, was wir beobachten:
„Ella, du hast mit dem Ball gespielt – und jetzt hat Benny den Ball.“
Wir benennen die Gefühle, aber auch die Handlungen:
„Jetzt ärgerst du dich und es fällt dir schwer, zu warten, bis du den Ball zurückbekommst.“
Auch in Situationen, in denen wir selbst unser Kind verärgert haben, kommentieren wir:
„Du wolltest nicht, dass ich den Fahrstuhlknopf drücke. Und jetzt bist du total wütend.“
Wir ermutigen, Ideen zu entwickeln:
„Was können wir denn jetzt machen?“
Oft gibt es mehr als nur eine mögliche Lösung:
„Okay, wir könnten einen zweiten Ball besorgen. Das wäre eine Möglichkeit. Was könnten wir denn sonst noch tun?“
Frei von Urteilen und Bewertungen
Unbewusst neigen wir auch zu Bewertungen und Urteilen über Situationen. Dabei weisen wir oft (ohne böse Absicht) „Täter- und Opferrollen“ zu, mit denen sich die Kinder im schlimmsten Fall identifizieren – und durch die sie sich schuldig oder hilfsbedürftig fühlen.
Als Sportkommentatoren beschreiben wir die Ereignisse ganz neutral:
„Ella hat mit dem Ball gespielt und jetzt hat Benny ihn.“
Wir gehen darauf ein, was in den beteiligten Kindern vor sich geht:
„Ella, du wolltest mit dem Ball eigentlich weiterspielen. Und du, Benny, hattest schon eine Weile gewartet und wolltest den Ball aber jetzt unbedingt haben.“
Ohne für jemanden Partei zu ergreifen oder zu bewerten (also z.B. kein „Das ist aber gemein, das machen wir nicht!“) stellen wir lediglich offene Fragen, wie:
„Hm, was können wir denn jetzt tun, damit alle glücklich sind?“
Diese Beschreibungen und offenen Fragen helfen den Kindern, die Situation zu verstehen. Und ganz nebenbei fördern sie sprachliche, soziale und emotionale Kompetenzen. Wir regen die Kinder zum Nachdenken an und – ganz wichtig:
Wir respektieren sie als die Akteure auf ihrem Spielfeld.
Unsere eigenen Ideen (sie mögen noch so großartig sein…) sollten wir lieber zurückhalten. Stattdessen erkennen wir jeden Vorschlag der Kinder an und regen sie dazu an, sich zu fragen, was an dieser Idee funktionieren könnte – und was vielleicht nicht:
„Okay, das wäre eine Idee. Du könntest dir den Ball einfach zurückholen. Was denkst du, wie Benny sich dabei fühlen würde?“
Solche Fragen fördern auch die Entwicklung von Empathie.
Ist keiner der Lösungsvorschläge der Kinder umsetzbar, können wir ganz subtil eigene Ideen als Unterstützung anbieten:
„Hm, ich frag mich gerade, ob wir das Puzzleteil vielleicht ein bisschen drehen könnten.“
So bleibt das Kind am Zug und kann selbst entscheiden, ob es den Vorschlag ausprobieren möchte oder nicht.
„Jedes Mal, wenn Erwachsene eingreifen und ihre Vorstellung von dem, was richtig ist, einbringen, lernen die Kinder, sich entweder auf sie zu verlassen oder sich ihnen zu widersetzen. Je mehr wir darauf vertrauen, dass Kinder Probleme selbst lösen können, desto mehr lernen sie, Probleme selbst zu lösen.“
Magda Gerber
Die einzelnen Schritte nochmal kurz zusammengefasst
- Neutral und unvoreingenommen beschreiben, was vor sich geht
- Gefühle benennen
- Kinder ermutigen, eine Lösung zu finden
- Nicht bewerten oder Partei für eines der Kinder ergreifen
- Nicht in den Problemlösungsmodus verfallen
Was aber tun, wenn einem Kind wehgetan wird?
Diese wichtige Frage stellt sich natürlich. Die Antwort ist aber klar: Sportscasting bedeutet nicht, dass wir dabei zusehen, wenn jemand verletzt werden könnte. Oh nein! Verhält sich ein Kind aggressiv oder wird einem Kind wehgetan, ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für Sportscasting. Dann ist ein Eingreifen notwendig. Aber wie?
Gefühle anerkennen, aber aggressive Handlungen ganz klar unterbinden (z.B. Hand blockieren):
„Ich sehe, du bist total wütend, aber ich lass dich deinen Bruder nicht hauen!“
Wir akzeptieren alle Gefühle, aber nicht alle Handlungen.
Was ist, wenn die Kinder noch nicht in der Lage sind, die Lösungen zu finden?
Welche Lösungen die Kinder auch immer finden mögen: Wichtig ist, dass sie versuchen (dürfen), das Problem selbst zu lösen.
Klar, Sportscasting ist keine Zauberei. Es eröffnet einen Prozess. Einen Lernprozess. Für dich, genauso wie für die Kinder. Und es wird definitiv nicht von heute auf morgen dazu führen, dass die Kinder mit perfekten Lösungen um die Ecke kommen. Wie auch? Es geht beim Sportscasting in allererster Linie um deine Grundhaltung. Du vertraust in die Kompetenz der Kinder und öffnest damit einen Raum für dein Kind, wichtige Fähigkeiten auszuprobieren und zu lernen.
Du wirst nicht umhin kommen, ab und zu auch eingreifen zu müssen und bei der Lösungsfindung zu helfen. Die Kinder erleben sich selbst dennoch als handelnde Wesen und werden mit deiner unterstützenden Grundhaltung schneller lernen, mit Herausforderungen umzugehen.
Es geht also darum, weniger zu tun und mehr zu beobachten. Ihnen Freiraum zu schenken, sie einfach mal „machen zu lassen“ und zu sehen, was dann passiert. Mit den Worten von Magda Gerber: „Do less. Observe more.“
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