Auf jedem Spielplatz, bei Play Dates, Geburtstagspartys oder im Alltag unter Geschwistern – es wird es immer wieder verlangt: Teilen. Selbst von Kleinkindern erwarten wir, dass sie lernen, zu teilen. Besonders beim Streit um ein Spielzeug.
Es ist wie ein soziales Mantra. „Du kannst doch auch mal teilen! Gib dem Jungen auch einen Keks.“ oder „Schau mal, Ella teilt auch. Kinder müssen lernen, zu teilen.“
Teilen, teilen, teilen. Uff.
Sicher, wir alle wünschen uns, dass unsere Kinder Teilen lernen. Das ist lebenswichtig. Und wir haben Angst, dass unsere Kinder zu egoistischen oder geizigen Außenseitern werden könnten, wenn wir sie nicht von Anfang an daran gewöhnen – zu teilen.
(Oder haben wir eher Angst, dass man uns als rücksichtslose, zu nachsichtige Eltern verurteilt, die es nicht hinbekommen, ihren Kindern Großzügigkeit „beizubringen“?!)
Lass mich hier mal kräftig anecken und ganz unkonventionell sagen:
Es ist okay, nicht zu teilen!
Warum?
Fakt ist, Kleinkinder verstehen das Konzept vom „Teilen“ noch gar nicht. So richtig verstehen sie es in aller Regel erst im Alter von 5 oder 6 Jahren.
Und oft hab ich den Eindruck, dass auch wir es missverstehen. Wir sagen „teilen“ – im Grunde meinen wir aber: „Gib das, was du hast, einem anderen Kind.“
Teilen wird so zu einem belasteten Wort.
Warum sollte dein Kind auf dem Spielplatz seinen blauen Bagger „teilen“ wollen, wenn es den Bagger dann an jemand anderes abgeben soll? Womöglich sogar an ein fremdes Kind? Frag dich mal umgekehrt: Würdest du einer Wildfremden oder einem Nachbarn, der zufällig mal da ist, dein Handy, Lippenstift oder Laptop überlassen?
Nein? Dein Kind auch nicht.
Und wenn es das möchte, dann tut es das. Von selbst.
Kleinkinder und das Verständnis von Besitz und Teilen
Kleinkinder wollen haben, was sie sehen. Sagen sie „meins“, bedeutet dies entweder: „Ich sehe es.“ Oder: „Ich will es.“ Oder: „Ich benutze es.“ Das Konzept, dass Mama oder Papa ein Spielzeug im Laden gekauft haben, das jetzt ihnen gehört, verstehen die meisten Kleinkinder noch nicht.
Langatmige Erklärungen über Besitz, Eigentum, Leihgaben und Teilen können wir uns und unseren Kindern deshalb (noch) ersparen.
Sicher, kein Elternteil fühlt sich wohl, wenn sein Kind auf dem Spielplatz einem anderen etwas wegnimmt. Wenn es an einem Spielzeug festhält, das ein anderes Kind benutzen will. Oder wütend wird, weil jemand nicht mit ihm teilen möchte. Puh. Aber wir bewerten diese Situationen in aller Regel anders – nämlich viel schlimmer – als die Kinder selbst.
Geben und Nehmen – und Streit um Spielzeug
Dass Kleinkinder zur selben Zeit dasselbe Spielzeug haben wollen, kommt ständig vor. Aber du musst wissen: Das Geben und Nehmen von Gegenständen ist für Kleinkinder ein Weg, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen.
Oft ist es auch nicht das Spielzeug, sondern die Interaktion mit dem anderen Kind, was dein Kind wirklich interessiert.
Das sehen wir, wenn es von einem bestimmten Spielzeug mehrere gleiche Exemplare gibt: Die Kinder sind dann meist nur an genau dem Spielzeug interessiert, das ein anderes Kind gerade in den Händen hält. Ist der Streit um ein Spielzeug vorbei, wird es meist fallengelassen – und schon ist das eben noch so begehrte Spielzeug völlig uninteressant. Beobachte das mal.
Was lernen die Kinder bei diesen Interaktionen?
Derartige Situationen sind für Kleinkinder sehr wichtig. Das Kind, das sich passiver verhalten hat, lernt:
- das Spielzeug stärker festzuhalten,
- ein anderes Spielzeug zu finden,
- einen Tausch anzubieten,
- „Nein“ zu schreien
- oder einfach wegzulaufen, wenn es das Spielzeug behalten will.
Das Kleinkind, das sich „aggressiver“ verhält, kann lernen, dass das Wegnehmen von Spielzeug nicht die beste Art ist, mit einem anderen Kind in Kontakt zu treten.
Dieser Lernprozess braucht Zeit und Übung.
Greifen Erwachsene immer wieder in das Geschehen ein und klären die Angelegenheiten zwischen den Kindern – was auf jedem Spielplatz leider zum Alltag gehört – dann lernen die Kinder:
Wir sind nicht in der Lage mit sozialen Situationen und Konflikten selbst fertig zu werden.
Nicht eingreifen, sondern beobachten.
Mit Geduld und ein bisschen Zurückhaltung würden wir meist feststellen, dass es eigentlich wenig Stress und vielmehr Neugier zwischen den Kindern gibt.
Reagiert ein Kind auf den Austausch dann doch mit Enttäuschung, Ärger oder Überraschung, bietet sich die Sportkommentatoren-Methode von Magda Gerber an: Nicht einmischen, nur sachlich beschreiben.
Liegt Aggression in der Luft, geh etwas näher zu den beteiligten Kindern und stelle sicher, dass niemandem wehgetan wird.
Wieso, weshalb, warum wir uns möglichst raushalten sollten und wie genau die Sportkommentatoren-Methode funktioniert – das kannst du in diesem Artikel nachlesen.
Wir können also sachlich beschreiben, was wir sehen. Ebenso können wir die Kinder unterstützen, indem wir einfach ihre Worte wiedergeben:
„Ella sagt, sie braucht den gelben Ball noch.“
Oder: „Benny sagt: Fass meine Autos nicht an.“
Dabei Gefühle zu benennen ist immer sehr hilfreich:
„Jetzt ist Ella wütend und möchte den Ball zurück haben.“
Wenn Kinder noch sehr klein sind und wenig Erfahrungen mit solchen Situationen haben, kannst du ihnen auch Vorschläge machen, was sie sagen könnten:
„Ella, du könntest Benny sagen, dass du deinen Ball zurückhaben möchtest.“
Oder: „Du kannst Ella ja mal fragen, ob du auch mit dem Bagger spielen darfst.“
Zu sagen „du kannst“ bzw. „könntest“, ist hierbei entscheidend. So wird für dein Kind klar, dass es sich um eine mögliche Option handelt.
Die Interaktion zwischen den Kindern kann sich dann ganz natürlich entfalten.
Sicherlich können derartige Konfliktsituationen auch schwierig sein. Für alle Beteiligten. Aber sieh diese Situationen als Lernerfahrung für die Kinder (und für dich) – die Kinder entwickeln Empathie, die Bereitschaft für Kooperation und die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Sie gewinnen Selbstvertrauen und werden sozial kompetent.
Aber nur, wenn wir sie lassen.
Frei von Urteilen
Beschreiben bedeutet auch: Keine Schuldzuweisungen. Es gibt keinen gemeinen Dieb. Und auch kein armes Opfer. Nur Kinder, die lernen, indem sie mit sozialen Verhaltensweisen experimentieren. Also musst du auch nicht völlig empört Polizei oder Richter spielen. (Zum Glück.)
Beobachte einfach mal, wie dein Kind verschiedene Optionen ausprobiert:
Lass ich jetzt los und lass das andere Kind den Ball nehmen? Was passiert, wenn ich den Ball richtig doll fest halte und nicht hergebe? Schaff ich das? Oder wenn ich den Ball dem Kind von selbst anbiete – hm, wie reagiert es dann?
Selbst gelernte Lektionen sind die nachhaltigsten.
Kinder sollten diese Situationen also am besten selbst lösen dürfen. Wir stellen dabei sicher, dass niemandem wehgetan wird. Ansonsten halten wir uns einfach mal schön raus. Beobachten und staunen.
Wenn wir unnötigerweise in einen Konflikt eingreifen, indem wir darauf bestehen, dass ein Kind teilt, berauben wir es einer sozialen Lernerfahrung.
Janet Lansbury
Nun zurück zum Thema Teilen:
Wie lernen kleine Kinder zu teilen?
Von ganz allein – sobald sie dafür bereit sind.
Kinder teilen, wenn sie anfangen, Empathie für andere zu empfinden. Von Kleinkindern können wir in jedem Fall noch keine Empathiefähigkeit erwarten. Also können wir uns in der Hinsicht wirklich erstmal entspannen.
In der Zwischenzeit bleiben uns drei Dinge:
#1: Wir leben unserem Kind Teilen und Großzügigkeit ganz natürlich vor.
Denn sagen kannst du viel – am Ende macht dir dein Kind eh alles nach. Du bist das Vorbild.
Dein Kind möchte von deiner Banane essen? Du sagst unaufgeregt:
„Du möchtest etwas von meiner Banane? Klar, gern! Ich teile sie mit dir.“
Oder: „Oh, wir haben nur einen Regenschirm. Komm, den teilen wir uns jetzt.“
#2: Wir sehen großzügiges Verhalten und erkennen es an.
„Du hast deine Bausteine mit Ella geteilt. Hast du gesehen? Sie hat sich darüber total gefreut.“
Dabei benennen wir auch wieder – du ahnst es – die Gefühle der Kinder. Du weißt, Gefühle sind einfach alles. Und by the way, genau das fördert eben auch die Empathiefähigkeit deines Kindes. Diese wiederum befähigt es – irgendwann – zu teilen. Freiwillig. Und aus vollem Herzen. Ist es nicht genau das, was wir wollen?
Wenn du deinem Kind die Folgen seines Verhaltens („Ella hat sich gefreut“) vor Augen führst, bekommt es selbst ein gutes Gefühl. Genau dieses gute Gefühl sorgt dafür, dass dein Kind an geeigneter Stelle von sich aus motiviert sein wird, etwas abzugeben oder zu teilen – um anderen eine Freude zu bereiten. Das Teilen entwickelt sich so ganz natürlich und wird zum Erlebnis. Und ganz wichtig: Dein Kind kann selbst entscheiden. Und Großzügigkeit fühlen.
Ganz anders erlebt es das Kind, wenn es zum Teilen gezwungen wird.
Ein „Oh, wie toll du geteilt hast! Super!“ sollten wir uns sparen. Wie auch generell Lob und Tadel. Wissenschaftler sind sich da einig. Dazu hat Anne vom Blog weltfremd einen sehr lesenswerten Artikel geschrieben – den findest du hier. Ebenso kann ich dazu das Buch „Liebe und Eigenständigkeit“ von Alfie Kohn wärmstens empfehlen.
#3: Vertraue deinem Kind.
Der letzte Tipp und wie so oft: Sei geduldig und vertraue darauf, dass dein Kind irgendwann von selbst lernen wird, zu teilen. Bis dahin bist du sein Vorbild.
Wir sollten unseren Kindern die Zeit geben, in ihrem Tempo zu lernen, was Teilen bedeutet. Und bevor sie das wirklich verstehen, sollten wir lieber vermeiden, aufs Teilen zu bestehen.
Deshalb sag ich voller Überzeugung:
Es ist okay, nicht zu teilen.
Wie siehst du die Sache mit dem Teilen? Findest du es okay, nicht zu teilen? Wie verhältst du dich auf dem Spielplatz? Schreib mir gern einen Kommentar – ich bin gespannt auf deine Meinung!
Super interessanter Artikel mit guten neuen Impulsen für mich – hatte bisher immer eher den Eindruck, mehr moderieren zu müssen, damit nicht einfach grundsätzlich „das Recht des Stärkeren“ gilt..
Wie geht man denn mit Situationen zuhause um? Ich finde es super anstrengend, mich mit anderen Mamas mit Kleinkind irgendwo zuhause zu treffen, weil es in der Regel für das Kind, in dessen Zuhause man ist, sehr schwierig ist, die anderen mit dem eigenen Spielzeug spielen zu lassen und es gefühlt permanent Geschrei deswegen gibt..
Hej liebe Simone! Danke – und ich weiß genau, was du meinst! Klar ist es für ein Kleinkind anstrengend, mit einem Besuchskind das eigene Spielzeug zu teilen. (Und für uns Eltern, das zu begleiten.) In dem Fall finde ich persönlich wichtig, die Gefühle anzuerkennen und dem eigenen Kind zu erklären, was passiert: „Benny ist sauer, weil er nicht möchte, dass andere mit seinen Tierfiguren spielen.“ Und: „Ella findet deinen Bagger richtig toll. Wow, der ist ja auch richtig schön, kann sich sogar drehen!“ (Oder ähnlich — mit der „Sportkommentator-Methode“, zu der ich auch mal etwas geschrieben habe.) Es mag jede:r anders sehen, aber für mich persönlich sind Respekt vor den Sachen der Kinder und Akzeptanz für alle Gefühle am wichtigsten. Wichtiger als das, was wir als „harmonisches Spielen“ erleben. Gerade bei Kleinkindern. 😉 Hilfreich könnte es vielleicht auch sein, zu Spiel-Dates auch eigenes Spielzeug mitzubringen.